Schlaft gut, ihr Menschen­kinder!

Schlaft gut, ihr Menschenkinder!

Als Matilde schlief, stiegen die gelöschten Fotos auf und die gelöschten Texte, alte Versionen und Kritzeleien, Fragmente, als nicht brauchbar eingestufte Gedichte, Geständnisse, Gefluche, Geflüster, eingegangene Post, auch Ungelesenes und Emails, die nie abgeschickt worden waren. Sie stiegen an die Oberfläche ihres iPhones, warfen Schatten und Blasen, klopften, feixten, klebten am Glas wie bunte, heitere, ruhige, nervöse und traurige Fische, dann formierten sie sich zu Zweiergruppen oder zu Schwärmen, sie versammelten sich in neuen und alten Dokumenten, in Alben, sie lasen sich gegenseitig, stritten, schmeichelten. Fotos gesellten sich zu Fotos oder zu Text, Text gesellte sich zu Text, dann begannen sie, sich zu verschicken über Whatsup und den offiziellen Account, aber auch – mit vollem Namen und Wohnort – über die beiden anonymen Adressen.

 

Der Inhalt des iPhone-Bauches posierte auf Instagram, er löschte und formulierte Tweets, kommentierte Posts auf Facebook, erstellte neue Seiten und eine eigene Homepage. Er wählte Telefonnummern, ordnete Namen – alles im Sinne und zu Gunsten der Matilde-Logik, die nur das Gelöschte kannte, das Zensierte, Verschmähte und Verschwiegene, das einzig Wahre und Erkennende. Es gab sich alle Mühe, das Leben von Matilde zu dem zu machen, was es war, es verdichtete und verstärkte, machte lauter, was sonst sollte ein iPhone tun? I wie Ich. Phone wie Phon oder neu: Fon, der Lautstärkepegel: „die empfundene Lautstärke, mit der ein Mensch ein Schallereignis als Hörereignis wahrnimmt.“ Jeder User wird zum Ereignis, hör- und sichtbar, wahrgenommen von der Welt als das, was er sein möchte oder ist, wenn er schläft im Bewusstsein, das Display sei dunkel – und alles sei gut.

 

Nichts war gut, aber auch nicht schlecht, alles unverdaut, nichts ausgeschieden, der Papierkorb und der Papierkorb des Papierkorbs bewahrten auf: kühl und trocken, sauber, datiert, als wären Bild und Text in transparente Vakuumsäcke verschlossen, in Frischhaltefolie gewickelt, keine Gärung, kein Verrotten, kein Faulen, alles genauso wie in der Stunde der Löschung.

 

Die Innereien beförderten unter anderem das Email von Flo nach oben, der geschrieben hatte: „Matilde, wenn mein Mobile in die Limmat oder in die Themse fiele, ich würde ihm nachspringen. Das Risiko: hoch. Egal. Falls ich es nicht retten könnte, wäre alles egal. Das iPhone ist meine Seele.“ Und Matilde antwortete: „Ich wusste nicht, dass du religiös bist, sonst könnte deine Seele wohl nicht absaufen. Warst schon immer ein Idiot. Mir wäre das schnuppe, wenn ich das iPhone nicht mehr hätte. Was habe ich zu verlieren? Das iPhone, das ist Technik, sonst nichts. Ich bin ich.“

 

Die Innereien von Matildes Handy liessen auch mir – wir waren befreundet – ein paar Bilder und Emails zukommen. No comment. Unter den Dokumenten fand sich immerhin diese Kolumne. Ich bin indiskret genug, sie zu veröffentlichen und unehrlich genug, meinen Namen darunter zu setzen. Schliesslich war die Geschichte in meinem iPhone.