Von Sturm und Deich

Von Sturm und Deich

«Findet das schöpferische Denken Aufnahme in Schulen, wird es allgemein anerkannt?…Oder wird authentisches Denken…behindert…durch gedankenlose politische, dogmatische oder ideologische Verleugnung? Welch finsterer…Mechanismus atavistischer Panik, unbewussten Neids nährt…die philisterhafte Brutalität der Medien, die schon den blossen Begriff «intellektuell» ins Lächerliche ziehen?» (George Steiner. Warum Denken traurig macht. 2008. Suhrkamp Taschenbuch 3981. S. 89f)

 

Steiner fragt im nächsten Abschnitt, ob hochtouriges Denken erlernt werden könne. Natürlich nicht. Aber warum gleich hochtourig, schöpferisch, auf Top-Niveau? Weder Frechgeister, Freidenker, noch Querdenker oder andere selbsternannte Silberpfeile des Intellektuellen braucht die Welt in Permanenz. Denken reicht. Denken reichte vollkommen. Zum Beispiel in den Gremien, die dafür prädestiniert sind: Kollegien an Schulen, Redaktionen, das Parlament. Meistens Leute, die sich für grosse Individualisten und deshalb für sperrig bis unführbar halten.

Wenn Denken ein Konzept wäre, das die antreibt, die sich mit Jugend, mit Bildung, Information, Aufklärung, Einordnung, Entwicklung und dem demokratischen Staatswesen professionell und organisiert beschäftigen, hätten Schule, Medien und Politik nach Snowdens Enthüllungen den Notstand ausgerufen.

 

Der Physiklehrer könnte im Notstandsjahr die Hebelgesetze sozial deuten und erklären, wie demokratische Mechanismen 2014 unterwandert werden, daran anschliessend könnte er nochmals Newtons Bewegungsaxiome repetieren und die Berechnung des freien Falls (ohne Reibung), der Deutschlehrer könnte in die Dramentheorie einflechten, an welchem Punkt der Tragödie wir zur Zeit gerade angelangt sind. Was die Informatiklehrerin, der Biologe alles sagen könnte: Man darf schwärmen. Der Historiker!

 

Warum weigert sich ein Schreiber bei der guten Zeitung eigentlich nicht, eine Spalte lang zu erklären, warum es zero neue Infos zum Schumi-Fall gibt? Bekommt er dafür Elektroschocks beim Kaffeeautomaten oder sind es subtile Repressionen, die ihn zur Dummheit zwingen? Wo sind die Themenabende im Fernsehen? Den Auftakt dazu darf gerne «Der Bestatter» liefern.

 

Warum stehen Politikanten auf dem Helvetiaplatz herum und halten Landsgemeinde über einen chancenlosen Vorstoss der hiesigen Nationalkonservativen, anstatt sich zu formieren gegen einen armageddonhaften Angriff auf unsere Freiheit? Hatten wir zu lange keinen Krieg mehr? Sind die Bicoflexmatratzen zu gut? Keine Lust auf ein bisschen Karfreitagsstimmung, ja? Voll aus der Mode. Müsste aber trotzdem sein. Verdammt dringend.

 

Und dazu müsste es das System wollen. Das System, das sich zusammensetzt aus lauter superschlauen Individualisten, die ihre Freiheit täglich realisiert sehen, wenn sie vor der Käseauswahl in der Migros Zollikon stehen und fröhlich mitfragen, wer abgeschrieben hat in seiner Diss., wer wen frequentiert, wann, wie oft, ob es nicht klüger wäre, wenn ein Student die Politikerinnenwohnung nutzte, welcher Regierungsrat einen Gratissirup für seinen Enkel bezogen hat, warum nicht Einnahmen und Ausgaben aller daliegen, jedes Protokoll, jeder Liebesbrief zur Einsicht und ob es wohl noch etwas Unversteuertes gibt bei Nachbar Muster? Man darf doch noch fragen. Ja, man muss! So lange es um diese Brut von sogenannten Leistungsträgern geht ist das Pflicht, bei den anderen Kür.

1962 hat Innensenator Helmut Schmidt während der Sturmflut in Hamburg als Leiter des Krisenstabs selbstherrlich Armee und Nato aufgeboten. Zum Denken braucht man nie eine Erlaubnis, zum Handeln nicht immer. Vor allem, wenn die Deiche brechen.

 

Denken macht traurig? Vielleicht. Sind wir deshalb eine Spassgesellschaft?

Na, dann: Viel Spass!